Mike
Steiner

Mike Steiner

(1941 – 2012)

„Ich zweifelte an den Möglichkeiten der Malerei, und ein ganzes Leben lang an einem Bild zu arbeiten, ist nicht mein Bier. Meine Haltung war grundsätzlich anders: immer auf der Suche nach neuen Erfahrungen, bereit zu Experimenten, ohne von vornherein ein striktes Konzept zu haben. Diskontinuität als Methode.“

Mike Steiner, MuseumsJournal 2/99

Mike Steiners künstlerisches Schaffen erzählt von Experimentierfreude, Progressivität und dem Willen, sich niemals langweilen zu wollen.

Sein Leben verbringt er in Zusammenarbeit mit weltberühmten Künstler:innen  wie Marina Abramović, Ulay, Jochen Gerz, VALIE EXPORT, Allan Kaprow, Ben Vautier und vielen mehr. Als Galerist, Produzent und sich stetig weiterentwickelnder Künstler hat Steiner keine Angst vor Veränderung – im Gegenteil.  Der Herausforderung ins Auge sehend stürzt er sich zeitlebens kopfüber und mit Anlauf in neue Möglichkeiten, Stile, Sparten, Medien der Kunst. Nicht ohne Grund wird er als kritischer Vordenker seiner Zeit so nicht nur zum Gründer und Galerist der international legendären Berliner Studiogalerie und Produzenten weltbekannter Performancedokumentationen, sondern auch zum Pionier und Förderer der deutschen Videokunst

 

Steiner will niemals stagnieren, sich nicht an seiner Kunst langweilen. Also erfindet er sich stets neu, bedient sich unterschiedlichsten Stilen, Arbeitsmethoden und künstlerischen Ausdrucksmitteln: neben Malerei des Informel, des abstrakten Expressionismus und der Pop Art erschaff Steiner Minimal Art Objekte, Videoinstallationen und -skulpturen, Readymades, (De-)Collagen, Mail Art, Copy Art, Fotografien und natürlich Videokunst.

Von ihm geprägte Begriffe wie Painted Tapes und Vilm veranschaulichen den fließenden Übergang seiner Werke in unterschiedliche Gattungen und skizzieren seine besondere, intermediale Arbeitsweise.

Das „Künstler-Chamäleon“ Mike Steiner will mehr – also wird er zu dem umfassenden Künstler, dessen facettenreiches Werk wir heute Schritt für Schritt erschließen können.

Das Œuvre Mike Steiners umfasst etliche Gattungen, Stile und Technik – zu keiner Zeit jedoch existiert in seinen Arbeiten eines für sich alleine. Anhand seines umfangreichen Gesamtwerks lassen sich die wichtigsten kunstgeschichtlichen Entwicklungen der 1960er bis -80er nachzeichnen. Die weitaus bedeutendste Rolle nimmt dabei Steiners Pionierarbeit in der Videokunst ein.

Ab den 80er Jahren kreiert er medienübergreifende Werke aus seiner Sicht als Videokünstler und fokussiert sich mit der Jahrtausendwende zunehmend auf eine aus seiner Videoästhetik entstandenen abstrakten Malerei. In seinen Painted Tapes propagandiert Steiner eine neue Ästhetik des Sehens, die er in seiner letzten Schaffensphase wiederum in abstrakte Malerei überführt. Mit der Jahrhundertwende entsteht so eine neue Form der abstrakten Malerei  – From Tape to Paint.

 

Steiner in seinem Berliner Atelier, 2005
(©www.catonbed.de / Jan Sobottka)
o.T., 2003, Mixed Media auf Holz, 180 x 180 cm, Privatsammlung Berlin

Biographie

Steiner als Jugendlicher

1941

Klaus-Michel Steiner wird am 8. Juli als zweites von drei Kindern des Dipl. Kaufmanns Klaus-Michel Steiner und der Dipl. Handelslehrerin Gerda Steiner, geb. Schacht, im ostpreußischen Allenstein (heute das polnische Olsztyn) geboren. Am 17. Juli wird er dort in der Kapelle des St. Marienkrankenhauses getauft, Paten sind Adolf Schacht (Allenstein) und Magarete Steiner (Berlin).

Seine Kindheit und Jugend verbringt er in (West-)Berlin.

Steiners Großvater väterlicherseits ist Schiffsarzt und trifft 1905 in der marokkanischen Hafenstadt Tanger ein. Dort wird im folgenden Jahr Steiners Vater geboren, woraufhin die Familie in Tanger verweilt und erst 1920 zurück nach Deutschland reist. In Berlin lässt sich die Familie nieder. Dort lernt Steiners Vater Gerda Schacht, die aus einem alten ostpreußischen Adelsgeschlecht stammt, kennen. Das Zuchtgestüt ihrer Familie bei Allenstein dient Steiners Familie während des Zweiten Weltkriegs als Rückzugsort – Steiners Vater ist Jude.

Mit Kunst, Musik und Literatur kommt Mike Steiner bereits in frühen Kindheitsjahren in Berührung. Sein Vater ist Gastgeber eines Berliner Salons, einem privaten Treffpunkt für Schriftsteller und Künstler. Ein signiertes Buch im Nachlass der Familie Steiner zeugt heute noch von Thomas Manns (1875-1955) Besuch des Salons. Anderen Familiendokumenten ist zu entnehmen, dass er in dieser Zeit zwei Gemälde von Max Liebermann (1847-1935) als Bezahlung erhalten hat. Ihr Verbleib ist unbekannt, da sie auf der Flucht von Berlin nach Sachsen am Ende des Zweiten Weltkrieg in einer Scheune zurückgelassen werden mussten. Es dürfte allerdings seine Mutter – selbst im privaten Rahmen künstlerisch und musikalisch tätig – gewesen sein, die Mike Steiner Interesse für die Malerei weckt.

1951

Erstkommunion am 1. und Firmung am 22. April in der Rosenkranz-Basilika, Berlin-Steglitz.

Erstes Interesse am Film. Während seiner Schulzeit beginnt Steiner eine Lehre im Filmkopierwerk der Berliner Universum-Film AG (Ufa). Diese bricht er nach drei Monaten ab, besucht danach weiterhin die Schule und macht sein Abitur.

Stillleben mit Krug, 1958, Mischtechnik, 44 x 34 cm, Im Privatbesitz der Familie Steiner
Krug aus dem Besitz der Familie Steiner

1959

Bereits mit 18 Jahren sind Steiners Werke Teil der Großen Berliner Kunstausstellung.

Die Ausstellung wird u. a. von Hans Kuhn (1905-1991) kuratiert, Steiners späterem Professor an der Staatlichen Hochschule für bildende Künste (HdK) Berlin.

Steiner stellt das Werk Stillleben mit Krug (1958) aus. Hierbei handelt sich um sein frühstes Gemälde. Es zeigt einen alten Krug, den Steiners Großvater aus Marokko mitgebracht hatte.

1961

Beginn des Studiums der Freien Kunst an der Staatlichen Hochschule für bildende Künste (HdK) Berlin.

Einjährige Grundlehre in der Klasse von Professor Hans Jaenisch (1907-1989), danach in der Klasse von Professor Hans Kuhn (1905-1991) auf dem Lehrgebiet der Malerei. Steiner verspricht zu Beginn seines Studiums ein international bedeutender Künstler des Informell zu werden.

o.T., um 1962, Öl auf Leinwand, 42 x 51,5 cm, Im Privatbesitz der Familie Steiner

1963

Merklich hält die nordamerikanische Malerei Einzug in Steiners Gemälde: Werke der Pop Art und des gestisch abstrakten Expressionismus entstehen.

Seit Steiners Kindheit besteht ein enger Kontakt zu einer Cousine seines Vaters, die 1933 als Jüdin nach Philadelphia in die USA emigriert war. Ab 1949 besucht sie jährlich ihre in Deutschland verbliebenen Verwandten, darunter auch die Familie Steiner in Berlin.

Libbys Kuh, 1963, Acryl auf Leinwand, 145 x 190 cm, Privatsammlung Berlin
In einer Weltnacht I, 1963, Öl auf Hartfaserplatte, 201 x 151 cm, Privatsammlung Berlin
Steiner beim Malen von „In einer Weltnacht I“, die Farbe wird aus der Tube direkt auf die Leinwand gebracht, um 1963
o.T., 1963, Mischtechnik auf Hartfaserplatte, 200 x 150 cm, courtesy by Galvano Art Gallery
Strange BH, 1966, Acryl auf Leinwand, 131 x 195 cm, Privatsammlung Berlin
John Lennon, 1965, Acryl auf Leinwand, 175 x 175 cm, Im Privatbesitz der Familie Steiner

1965

Lil Picard und Mike Steiner, Berlin 1971

Mit einem viermonatigen Stipendium der Ford Foundation kommt Steiner erstmals in die USA, wo ihm Kulturinstitutionen mehrerer amerikanischer Städte vorgestellt werden. Zurück in Berlin beschafft er sich ein Einwanderungsvisum für die Vereinigten Staaten und bricht bald nach New York auf. Die deutschstämmige Künstlerin und Kunstjournalistin Lil Picard (1899-1994) führt ihn in die New Yorker Kunstkreise rund um Fluxus, Happening und Pop Art ein.

In New York arbeitet Steiner im Kunstbuchhandel, knüpft Kontakte zu Galerien und hat erste Erfolge mit seiner Informellen Malerei. Er bewohnt ein Zimmer bei der deutschstämmigen Künstlerin und Kunstjournalistin Lil Picard (1899-1994). Sie nimmt ihn unter ihre Fittiche. Im Umfeld von Fluxus, Happening und Pop Art ist Picard eine feste Größe in der New Yorker Kunstszene. Steiner kann zahlreiche Kontakte knüpften und macht u. a. Bekanntschaft mit Al Hansen und Allan Kaprow, dem Vater des Happenings. Nachhaltig beeindruckt von der experimentellen New Yorker Kunstszene beschäftigt er sich mit Minimal Art, Pop Art, Hard Edge, Happening, Performance und Experimentalfilm.

In diesem Jahr hat er den ersten Vorsitz im Allgemeinen Studierendenausschuss (AstA) der HdK Berlin inne. Während der von ihm mitorganisierten Studentenfaschingsveranstaltung Zinnober lernt Steiner den HdK-Studenten Edgar Froese und seine Band Tangerine Dream kennen.

Einer der Gründungsmitglieder der Band ist Konrad Schnitzler (gen. Konrad von Berlin). 1982 begleitet Steiner Tangerine Dream auf ihrer Tournee durch Australien mit seiner Videokamera. Aus diesem Material entsteht unter anderem das Video Mojave Plan, das auf dem Festival Video/Culture 1983 in Toronto als bestes unabhängig produziertes Musikvideo  ausgezeichnet wird.

 

Damase, Jacquese: Nouvelle école de Berlin. Ausst.-Kat. Genf, Galerie Motte. Genf 1967. In Genf, Mailand und Paris stellt Mike Steiner zusammen u. a. mit Baselitz, Lüpertz und Hödicke als einer der vielversprechendsten jungen künstler Berlins aus.

1967

Ein drohender Einzug zum US-Militär – mitten im Vietnamkrieg – veranlasst Steiner im Herbst 1967 nach Deutschland zurückzukehren.

Der Krieg in Vietnam (1964-1975) stößt bei der jungen Künstler:innengeneration, der auch Steiner angehört, auf scharfe Kritik. In der zweiten Hälfte der 60er Jahre entwickelt sich unter ihnen ein starkes Interesse an der kritischen Betrachtung gesellschaftlicher, ökonomischer und politischer Zusammenhänge. Diese Entwicklung erfolgt im Wechselverhältnis zur sogenannten 68er-Revolution, einer Studierendenrevolte, die nicht nur Europa und die USA erfasste. In der Kritik stehen der Kapitalismus und Imperialismus der westlichen Industriestaaten, die veralteten Bildungssysteme und Medienmonopole (zum Beispiel der Berliner Springer Verlag), rassistische und sexistische Unterdrückung sowie speziell in Deutschland die Nichtaufarbeitung des Nationalsozialismus. Einige von Steiners Arbeiten der 60er und 70er Jahre sind ein Produkt dieser einschneidenden Zeit, wie beispielsweise der Siebdruck The War that Didn’t End War (1973).

The War that Didn’t End War, 1973, Siebdruck auf Fotoleinen, 119 x 181 cm, Nachlass

The War that Didn't End War, 1973, Siebdruck auf Fotoleinen, 119 x 181 cm, Nachlass
Plakat für Steiners Kurs zur Pop Art an der Volkshochschule Berlin Zehlendorf, 1969/70
Flyer des Hotel Steiner

1970

Steiner eröffnet unmittelbar am Kurfürstendamm, in der Albrecht-Achilles-Straße 58 in Berlin, das legendäre Hotel Steiner. Als neuer Treffpunkt für internationale Künstler:innen wird es mit dem namhaften New Yorker Chelsea-Hotel verglichen, dem Andy Warhols Filme zu Ruhm verholfen hatten.

„Jedes Zimmer war ein kleines Gesamtkunstwerk, welches von mir und anderen Künstlerpersönlichkeiten gestaltet wurde.“ (Mike Steiner)

 

Deutsche Kunstschaffende wie Joseph Beuys und Arthur Køpcke und insbesondere Steiners amerikanische Künstlerfreund:innen finden dort einen Unterschlupf mit einzigartig anregender Atmosphäre, wie sie Steiners alte Freundin Lil Picard in einem Beitrag zu René Blocks 1971 erschienen Katalog Szene Berlin schildert:

Für sie ist das Hotel Steiner:

„ein Home far away from Home und Anschluß an den Geist der Gespräche, die sich in den Untergrund d´esprit ausdehnen, wenn z.B. Addi Köpcke und Tutti im roten Kleid von den Musen getrieben in Debatten schwelgen, die schon vor einem halben Jahrhundert im Café Voltaire in Zürich und im alten romanischen Café Berlins Künstler zu Dichtern machten. Das ewige Kunstgespräch setzt sich fort, sei es um ein Uhr nachts im Atelier oder schon um 16 Uhr nachmittags. Oft fängt der Tag um 14 Uhr mit opulentem Frühstück an. René Block schaut herein, Peter Hutchinson aus New York sitzt still, sanft und leise am Nebentisch, […] Durchreisestation: Berlin & Steiner Hotel. […]  Ein Baum bewacht das Haus, die Künstler schlafen. Sie träumen, sie lieben, sie warten auf das Glück in Berlin nahe dem Ku‘damm – bei Mike Steiner, im kleinen Kunsthotel des großen Berlin.“

In den Jahren 1969 und 1970 doziert Mike Steiner an mehreren Berliner Volkshochschulen im Fach Bildnerisches Gestalten – darunter auch ein Kurs zur Pop Art, mit der er sich zuletzt auch in seinem eigenen malerischen Werk auseinandersetzt. Anregung dazu war vor allem Andy Warhol, dessen innovative Experimentalfilme Steiner – zusammen mit Michael Snows – in New York interessiert verfolgt hatte.

1972

Durch die Bekanntschaft mit George Moorse und Gerald Vandenberg, die zu den ersten Dozenten der neugegründeten Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin (DFFB) gehören, kommt Steiner Anfang der 70er Jahre über die Beschäftigung mit Tendenzen des Avantgardefilms zur Videokunst. Er wird einer der ersten Verfechter der noch jungen Videokunst in der Bundesrepublik Deutschland.

Es entstehen erste Videoarbeiten zusammen mit Al Hansen, einem Freund aus der Fluxusbewegung, den Steiner während seiner Zeit in New York kennengelernt hatte.

Studiogalerie Mike Steiner in der Ludwig Kirchstraße 10, Berlin 1974

1974

Auf Einladung von Allan Karpow, einer der Väter der Happeningbewegung, selbsternannter künstlerischer Erbe Jackson Pollocks und Wegbereiter der Fluxusbewegung, reist Steiner nach Florenz, um dort im Studio Art/Tapes/22 der Galeristin Maria Gloria Biccochi seine ersten eigenständigen Videoarbeiten zu realisieren.

 

Daraufhin ruft er noch im selben Jahr die Studiogalerie in der Ludwig Kirchstraße 10 ins Leben – ein unabhängiges internationales Forum für Video und Performance nach dem Vorbild des Studios Art/Tapes/22 in Florenz. In Steiners Studiogalerie (ab 1979 in der Albrecht-Achilles-Straße 58 ansässig) finden bis 1981 Ausstellungen und Performances u. a. mit Laurie Anderson, VALIE EXPORT, Friederike Pezold, Ulay, Miralda, Muntadas, Ulrike Rosenbach, Jochen Gerz, Nan Hoover, Carolee Schneemann und Marina Abramović statt.

Der Fokus von Steiners Videogalerie liegt auf drei wesentlichen Bereichen. Der Erste gilt der Videokunst: Nach seinem Künstleraufenthalt im Studio Art/Tapes/22 in Florenz steht für Steiner fest, dass die Videokunst das Ausdrucksmittel ist, nach welchem er gesucht hatte. Die Videogalerie ist in erster Linie Steiners Atelier, in dem seine besten Videoarbeiten entstehen.

Zudem ist sein Anliegen, die Videokunst in Berlin zu fördern — die Videogalerie ruft Steiner daher auch als Künstler-Selbsthilfe-Projekt ins Leben. Nach dem Vorbild des florentinischen Studio Art/Tapes/22 stellt er schaffenden Videokünstler:innen, wie zum Beispiel der Gruppe INTERMEDIA, teure Ausrüstung (Kameras, Schneidetische etc.) zur Verfügung und ermöglicht ihnen, ihre Arbeiten zu präsentieren. Während in Köln der damalige Direktor des Kölnischen Kunstvereins Wulf Herzogenrath für die dortige Videoszene eintritt, fehlen solche Projekte in Berlin weitgehend.

Den zweiten Schwerpunkt der Galerie bilden die Aktionskünste. Als Galerist bietet Steiner Künstler:innen wie VALIE EXPORT, Jochen Gerz, Carolee Schneemann und Marina Abramović – und damit der Feministischen Avantgarde der 70er Jahre – einen Aktionsraum, während er zugleich als Videokünstler ihre Performances – einmalige und unwiederholbare Ereignisse, die lediglich in dem kurzen Moment ihrer Aufführung existieren – mit seiner Videokamera für spätere Generationen bewahrt. Oft ist er auch an der Entwicklung und Organisation der Aktionen beteiligt: 1976 plant Steiner zum Beispiel zusammen mit Ulay den inszenierten Kunstraub in der Berliner Neuen Nationalgalerie,  produzierte die Aktion und das daraus entstandene Kunstvideo Irritation – Da ist eine kriminelle Berührung in der Kunst (1976).

Darüber hinaus ist die Studiogalerie ein Ort für Ausstellungen für die Stipendiat:innen des renommierte Berliner Künstlerprogramm (BKP) des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD) aber auch für etliche internationale Kunstschaffende, die Steiner auf seinen Reisen kennengelernt hatte. Dabei begreift Steiner wesentlich das Potenzial der Happening- und Fluxusbewegung. Ben Vautier und Allan Kaprow, Dorothy Iannone oder Anhänger:innen des Wiener Aktionismus wie VALIE EXPORT, um nur Einige aus dem näheren und entfernteren Umfeld von Fluxus zu nennen, waren als Gäste mit Aktionen vertreten. 

Steiner erwirbt das erste Videotape: Objekt zur teilweisen Verdeckung einer Videoszene von Reiner Ruthenbeck.

1976

Gleich zwei legendäre Produktionen sind in diesem Jahr mit dem Namen Mike Steiner verbunden:

Irritation – Da ist eine kriminelle Berührung in der Kunst (1976) mit Ulay

In seiner Rolle als Galerist initiiert, plant und produziert Steiner Performances und Aktionen mit, so auch den inszenierten, kunstgeschichtlich legendär gewordenen Kunstraub des Gemäldes Der arme Poet aus der Berliner Neuen Nationalgalerie mit dem Künstler Ulay im Jahr 1976.

Großes Aufsehen erregt die temporäre Entfernung des Carl Spitzweg Gemäldes Der arme Poet 1976 aus der Westberliner Neuen Nationalgalerie. Steiner produziert zusammen mit Wilma Kottusch die Videodokumentation der Protestaktion,  in der Ulay das berühmte Spitzweg Gemälde stiehlt, es bei einer türkischen Arbeiterfamilie in Kreuzberg im Wohnzimmer aufhängt und anschließend zum Künstlerhaus Bethanien bringt, wo es dem Direktor der Nationalgalerie zurückgegeben wird.

Die Kunstaktion wird im Vorhinein in der Zeitschrift KUNSTFORUM angekündigt. Nach der Aktion wird eine Pressekonferenz in der Studiogalerie Mike Steiner durch das intermedia art team, dem Ulay angehörte, abgehalten, in der die Pressevertreter:innen „offiziell“ über die Kunstaktion informiert werden.

Die Studiogalerie vertreibt anschließend auch das Kunstvideo sowie eine Publikation, die die Dokumentation der Arbeit und die dazu gesammelten Pressestimmen umfasst.

Der dabei produzierte Ulay: Irritation- da ist eine kriminelle Berührung in der Kunst (12.12.1976) wird im Rahmen der Berliner Filmfestspiele auf dem 6. Internationalen Forum des jungen Films gezeigt.

Marina Abramović – Freeing the Body (1976)

Im Rahmen seiner Position als Galerist der Studiogalerie zeichnet Mike Steiner selbst häufig die dort stattfindenden Performances auf.  Dabei versucht er nicht nur die Aktionen zu dokumentieren, sondern sie aus seiner künstlerischen Position mit bewusst unprätentiöser Methodik authentisch einzufangen. Zu einer dieser Performances gehört Freeing the Body von Marina Abramović aus dem Jahr 1976. Die Studiogalerie war Veranstalter der Performance.

In der Performance Freeing the Body, die Steiner am 7. Oktober 1976 im Künstlerhaus Bethanien filmt, tanzt Marina Abramović über sechs Stunden entkleidet zu variierenden Trommelgeräuschen. Das einzige Kleidungsstück, das sie trägt, ist ein schwarzer Schal, der um ihren Kopf und über ihr Gesicht gewickelt ist. Zu Beginn ist Abramović sehr energetisch, rotiert ihre Hüften und den Oberkörper stark. Der Trommelspieler variiert mit der Spielweise, sodass die Töne mal schneller, mal sanfter zu hören sind. Der Schal, der ihr Gesicht verdeckt, zwingt das Publikum sich ausschließlich auf den Körper der Performerin zu konzentrieren und verschafft Abramović zugleich eine Anonymität, die sie als Körper und Person abstrahiert. Mit der über die Zeit einsetzenden Erschöpfung ebben ihre Bewegungen bis hin zu einer monotonen, wiederholenden Schwingung ab. Die Performance endet damit, dass Abramović nach über sechs Stunden und einem letzten intensiven Bewegungsmoment erschöpft zu Boden fällt und dort liegen bleibt.

Steiners Rolle ist dabei elementar: Durch seine Videodokumentationen hält er die vergänglichen und auf die Dauer ihrer Aufführung beschränkten Kunstereignisse für ein nachfolgendes Publikum fest.

Steiners Dokumentation zu Performance „Befreiung des Körpers„ (engl. Freeing the Body)
Ulay in der Nationalgalerie bei der Entfernung des Gemäldes „Der arme Poet“ (1839) von Carl Spitzweg. Aus dem Video: „Irritation – Da ist eine kriminelle Berührung in der Kunst“, 1976.
Steiner filmt Performance „Freeing the Body“ im, vorne links: Ulay, damaliger Lebensgefährte von Abramović, 7. Oktober 1976
Marina Abramovićs bei der Performance „Freeing the Body“ im Künstlerhaus Bethanien, 7. Oktober 1976

1978

Steiner ist verantwortlicher Kurator und Organisator des Videoprogramms der Kunstmesse ART Basel, auf der er auch in den folgenden Jahren Schwerpunkte seiner Sammlung präsentiert.

Zusammenstellung des Auswahlprogramms für das Festival Video Roma.

Das Historische Archiv der Biennale Venedig kauft alle seine in Italien produzierten Videobänder: Steiners erster dokumentierter Verkauf von Videotapes. 

Im Laufe der Jahre ist er mit seinen eigenen Videotapes und seiner Videosammlung auf zahlreichen internationalen Videofestivals vertreten. Als Kenner der Performance- und Videokunst wird er zu internationalen Vorträgen, Symposien und Jurorentätigkeiten eingeladen.

Poster für die ART Basel 1978
Joan La Barbara während ihrer Performance für das Hotel Room Event im Hotel Steiner. Still aus: „She is always alone“, 1979

1979

Ab nun befindet sich die Studiogalerie im selben Gebäude wie das Hotel Steiner. Das zur Einweihung veranstaltete Hotel Room Event, eine von Steiner und dem Fluxuskünstler Ben Vautier organisierte 36-Stunden-Live-Performance von 15 Künstlern, geht in die Videogeschichte ein.

Über seine Tätigkeit als Videokünstler, Galerist und Initiator von Performances und Videoproduktionen hinaus, beginnt Mike Steiner Videokunst zu sammeln. 1999 vermacht er über 300 Videotapes aus seiner umfassenden Sammlung als Schenkung der Nationalgalerie (Berlin), die einige davon 2011 im Hamburger Bahnhof – Museum für Gegenwart – in der Ausstellung Live to Tape präsentiert.  Ein Großteil der Sammlung ist bis heute leider nicht digitalisiert und damit der Öffentlichkeit noch nicht zugänglich.

Die Videoschenkung Mike Steiner in der Neuen Nationalgalerie Berlin, (2000)

1980

Steiner startet eine Vortragsreihe über Videokunst, die ihn über Europa hinaus wieder in die USA führt: Kunstverein Bonn, New York, University of California (Los Angeles), Mediacenter (Buffalo) u. a.

1981

Seit ihrer Eröffnung im Jahr 1974 haben etliche Performances in der Studiogalerie stattgefunden, u. a. von Marina Abramović (Freeing the Body, 1976), VALIE EXPORT (I (beat [it])“, 1978), Carolee Schneemann (Up to and including her Limits“, 1976) und Jochen Gerz (Griechische Stücke #8“, „Snake Hoods & Dragons“, „Dreams“, 1977). In seiner Rolle als Galerist initiiert, plant und produziert Steiner diese Performances. In seiner Position als Videokünstler filmt er dabei selbst in den meisten Fällen die einzigartig stattfindenden Aktionen, wie z. B. bei Abramovićs Performance Freeing the Body (1976) und bewahrt sie so für die Nachwelt.

Es herrscht großes Interesse seitens der Performancekünstler:innen am Video: „[E]s waren vor allem die Performance-Künstler, die für ihre Kunst neue Quellen der Inspiration suchten. Video hat sie sehr interessiert.“ (Mike Steiner, 1992). Video eignet sich in besonderer Weise für die Aufzeichnung von Performances, denn [g]laubwürdiger und objektiver diente diesem Bereich der Kunst das Video, insofern es die Möglichkeit gab, synchron Ton und Bewegung zu fixieren, dabei im realen Zeitverlauf, was im Kino nicht möglich ist.“ (Mike Steiner, 1992).

So avanciert Steiner zum Mäzen und Kenner der Performanceszene. Nach der Schließung der Studiogalerie im Jahr 1981 verpflichtet er sich der Kunstvermittlung:

Teilnahme am Symposium International d’Art Performance in Lyon.

Steiner ist Jurymitglied für das renommierte Berliner Künstlerprogramm (BKP) des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD) im Bereich Video und Performance.

Für das Künstlerhaus Bethanien in Berlin übernimmt Steiner das Konzept und die Zusammenstellung von ca. 50 Videobändern über Performance.

Still aus Mike Steiners Videotape „Mojave Plan", 1983

1982

Steiner begleitet die Musikgruppe Tangerine Dream auf ihrer Tournee durch Australien mit seiner Videokamera.

Neben der audiovisuellen Dokumentation Ein Funkturm am Ayers-Rock entsteht das Video Mojave Plan, eine malerische Umsetzung von Musik, Videoaufnahmen und Malerei, die Steiner als Painted Tape bezeichnet.

1983

Aus Steiners Material von der Australien-Tournee der Musikgruppe Tangerine Dream entsteht das Video Mojave Plan, welches auf dem Festival Video/Culture 1983 in Toronto als bestes unabhängig produziertes Musikvideo ausgezeichnet wird.

Beginn des Fotozyklus „Das Testbild als Readymade“. Das testbild inspiriert Steiner alls Gegensatz zu dem Rausch der Bilderflut im Fernsehn. In der Beschäftigung mit dem Testbild entdeckt Steiner es für sich als Readymade.

1984 endet die Serie vorerst, bis Steiner sie 1992/3 wieder aufnimmt. 1997 zeigte er die Testbild-Serie in der epochalen Austellung „der Traum vom sehen“ im Gasometer in Oberhausen.

o.T., 1984, C-Print auf Cibachrome auf Aluminium, 120 x 160 cm, courtesy by Galvano Art Gallery

1984

Ausstellungsansicht, Der Traum vom Sehen, mit dem Zyklus „Das Testbild als Readymade" (1983-1997), Oberhausen 1997

„Mike Steiner“ wird offiziell als Künstlername eingetragen.

1985

In Anlehnung an Gerry Schums visionäre Berliner Fernsehgalerie (ausgestrahlt in den Jahren 1968 und 1969) ruft Mike Steiner im Berliner Kabel-Pilot-Projekt Die Videogalerie ins Leben und bringt so die Videokunst ins Fernsehen. Steiners und Schums Konzepte bleiben in Deutschland beispiellos.

Er produziert, moderiert und kommentiert bis 1990 zunächst wöchentlich, später monatlich über 120 Sendungen zum Thema Videokunst. Es werden sowohl Arbeiten aus seiner Sammlung vorstellt als auch zahlreiche Künstlerinterviews sowie Berichte von lokalen und internationalen Videoveranstaltungen gezeigt.

Steiner reist mit anderen Charlottenburger Künstler:innen nach Ägypten. Die dort gewonnen Impressionen bieten Material für spätere Werke, u.a. die Ägypten Takes.

Still, Steiner bei der Moderation seiner Kabelsendung „Die Videogalerie“, 1988, Still
Studiogalerie Mike Steiner, Aufzeichnung der Sendung. „KUNSTSTADT BERLIN - berechtigte Euphorie?“, 1986

1986

Steiner veranstaltet eine Vortragsreihe über Video an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin (DFFB).

1987

Steiner produziert das Video Der Glotzer als Hommage an Joseph Beuys.

Joseph Beuys verstirbt am 23. Januar 1986.  Mike Steiner widmet ihm dieses Video, das 1987 im Programm der Videogalerie im Fernsehen ausgestrahlt wird. Zu sehen war das Gesicht eines jungen Mannes, während im Hintergrund Beuys u. a. seinen erweiterten Kunstbegriff entwickelte. Neben gemeinsamer Zeit im Hotel Steiner verband die beiden Künstler eine visionäre und gleichzeitig immer auch kritische Einstellung zum herrschenden Kunstbegriff und zu dessen Entwicklung.

 

Goethe – Steiner – Beuys
Still aus Mike Steiners Video „Der Glotzer“ – Hommage an Joseph Beuys, 1987

1989

Am 9. Januar hält Steiner im Bauhaus Archiv (Berlin) einen Vortrag im Rahmen der Veranstaltung Schauplatz Museum (4.-15.1.1989) zur Medialen Ästhetik – Elektronische Bilder im Dialog mit Bauhaus-Konzepten. Am 2. November spricht er in der Zentraleinrichtung Audiovisuelle Medien (ZEAM) der Freien Universität Berlin über Die Sphäre der Kunst in elektronischen Bildern, als Teil des Colloquiums Neue Medien in Kultur und Wissenschaft im Fachbereich der Germanistik im Wintersemester 1989/90.

1990er

In den 90er Jahren wendet Steiner sich wieder verstärkt der (Dé-)Collage, der Malerei und der Fotografie zu. Dies ist nicht als Bruch mit seinem Schaffen in der Video Art zu verstehen, sondern vielmehr als dessen Weiterentwicklung: Die in seinen Videoarbeiten entwickelte neue Ästhetik des Sehens wird in andere Gattungen überführt.

Ausstellungsansicht, Der Traum vom Sehen, mit dem Zyklus „Das Testbild als Readymade" (1983-1997), Oberhausen 1997.
o.T., 1984/97, Cibachrome auf Aluminium, 120 x 160 cm, courtesy by Galvano Art Gallery
Steiner vor zwei Fotoarbeiten aus dem Zyklus „Das Testbild als Readymade" (1983-1997) in der Ausstellung Der Traum vom Sehen, Oberhausen 1997.
Mike Steiner/Longest F. Stein (Hrsg.): Berlin Video. Berlin [1992].

1991

Steiner organisiert im Rahmen der Ausstellung Interferenzen: Kunst aus Westberlin 1960 – 1990 in Riga das zehnteilige Videoprogramm Berlin Video. Das Videoprogramm und der dazu publizierte Katalog geben erstmals einen Einblick in seine umfangreiche Sammlung.

1994

Die Neue Gesellschaft für bildende Kunst (NGBK) in Berlin zeigt mit Steiner Art Tapes eine umfassende Einzelausstellung zu Mike Steiners Videosammlung von über 500 Titeln.

Anja Oßwald: Steiner Art Tapes. Ausst.-Kat. Berlin, Neue Gesellschaft für bildende Kunst, 9. April – 7. Mai 1994. Berlin 1994.

1999

„Plädoyer für die Malerei – Meine Strategie: 
Die Rückverwandlung des Medienbildes in die Malerei“

Mike Steiner, Notizbuch, um 1998

Der Gewinn, den besonders Steiners Malerei aus seinem stets gattungsübergreifenden Denken und seiner Arbeit als Pionier der Videokunst zieht, wird 1999 von der Berliner Nationalgalerie im Hamburger Bahnhof in der großformatigen Einzelausstellung Mike Steiner – Color Works gewürdigt.

Steiner vermacht seine Videosammlung der Stiftung Preußischer Kulturbesitz (darunter u. a. frühe Videoaufnahmen von Richard Serra, Bill Viola, George Maciunas, Allan Kaprow, Gary Hill, Nam June Paik). Sie befindet sich seither in der Nationalgalerie im Hamburger Bahnhof – Museum für Gegenwart – Berlin.

Potus und Flotus, wo seid ihr?, 1997, Mixed Media auf Holz, 180 x 180 cm, courtesy by Galvano Art Gallery
Mike Steiner/Birgit Stöckmann (Hrsg.): Mike Steiner – Color Works 1995-1998. Ausst.-Kat. Nationalgalerie im Hamburger Bahnhof – Museum für Gegenwart – Berlin, 17. April – 11. Juli 1999. Berlin 1999

2006

Im Jahr 2006 erleidet Mike Steiner einen Schlaganfall. 

Danach zieht er sich weitergehend aus der Öffentlichkeit zurück. Er arbeitet weiterhin in seinem Berliner Atelier. Seit 2000 hatte Steiner sich hauptsächlich der abstrakten Malerei zugewandt. In seinen letzten Jahren fertigt er zudem einige Stoffarbeiten an.

2012

Mike Steiner verstarb am 3. Januar 2012 in Berlin.
Innerhalb der Videokunst propagandiert Mike Steiner in seinen Painted Tapes eine neue Ästhetik des Sehens. Gegen die lärmige Sinnlichkeitsreproduktion des Fernsehens setzt er eine Sinnpause, ein Innehalten, Besinnen, eine Konzentration. Durch den überwiegend puristischen Einsatz der Mittel und eine demonstrative Kargheit entstehen so künstlerische Formulierungen von intimem Charakter und bewusst inszenierter Langsamkeit. 

In den 90er Jahren überführt der Videopionier diese neue Ästhetik des Sehens in die Malerei – die Geburt der Tape to Paint Malerei. Mit Farbe als sein wichtigstes Ausdrucksmittel schuf er so faszinierende Bilder nach dem Leitgedanken: „Aus abstrakten Grundsätzen heraus, Codierung der Intimität“ (Mike Steiner, Notizbuch).
Steiner im Berliner Atelier, 2005. © www.catonbed.de / Jan Sobottka
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